Piroggi mit Swing
Nach China in den letzten beiden Jahren ging es vom 09. bis zum 15. Juni 2018 diesmal nach Polen. Es war eine wundervolle Fahrt, mit vier tollen Konzerten, Begegnungen mit jungen polnischen Musikern und vielen nachwirkenden Erlebnissen. Hier ein kurzes Tagebuch der Fahrt:
09.06.2018
Heute mussten wir früh aufstehen. Das Sommerkonzert von gestern Abend noch in den Knochen ging es schon um 06.00 Uhr los. Das heutige Ziel ist Jelenia Gora, eine Stadt am Fuße des Riesengebirges, nah der deutschen Grenze. Trotz der kurzen Nacht ist die Stimmung gut.
Nach acht Stunden Busfahrt erreichen wir den Konzertort, laut Beschreibung eine Konzertmuschel am Stadttheater im Kurpark. Allerdings kommen wir zunächst nicht näher heran. Busfahrer Holger zwängt den Bus schließlich durch das enge Parktor und parkt den Bus direkt vor dem klassizistischen Theater. Wir befinden uns in einer sehr schönen Kuranlage, die auch die Kulisse für einen Roman von Dostojewski sein könnte.
Die Bühne ist sehr schön und mit einer professionellen Anlage und einem kompetenten Toningenieur versehen, prima.
Kurz nach Beginn des Konzerts beginnt es in Strömen zu regnen. Die Band meistert das Konzert aber trotzdem gut und professionell. Angesichts des Wetters halten erstaunlich viele Zuschauer bis zum Ende unseres zweistündigen Konzertes aus. Kaum ist unser letzter Akkord verklungen, hört es auf zu regnen und die Sonne kommt wieder heraus. Schade. Trotzdem sind die Veranstalter begeistert und möchten uns für ein abendfüllendes Konzert im Stadttheater buchen.
Anschließend essen wir Piroggi und polnischen Hackbraten im wunderschönen, ehemaligen Ballsaal. Es ist ohnehin sehr lecker, schmeckt aber aufgrund des tollen Ambientes noch besser.
Danach brechen wir zu unserer Pension auf, die oberhalb von Jelenia Gora auf einem Berg im Riesengebirge liegt. Bis in die Dunkelheit genießen wir das tolle Panorama mit Blick auf die Schneekoppe.
10.06.2018
Frühstück mit Blick auf das Riesengebirge. Noch vor dem Frühstück haben fast alle Bandmitglieder die Chance auf einen kleinen Rundflug genutzt. Adrenalin vor dem Frühstück. Dann geht es weiter Richtung Krakau.
Mit leichter Verspätung treffen wir in Krakau ein und beginnen bei sengender Hitze mit einer Stadtführung. Unsere Führerin Agnes erzählt aber spannend und wir sind alle begeistert von dieser wunderschönen Stadt. Zunächst dürfen wir das Schloss auf dem Wawel erleben, gelegen auf einer Anhöhe oberhalb von Polens längstem Fluss, der Weichsel.
Anschließend begehen wir den Königsweg, der vom Wawel zum Rynek führt, den größten Stadtplatz Europas, und dann zu den alten Festungsanlagen am alten Stadttor.
Unter anderem kommen wir auch an den legendären Jazzclubs u Muniaka und Chicago Jazz Club vorbei. Dort werden wir morgen und übermorgen Abend Konzerte geben. Mit Stolz aber auch etwas mulmigen Gefühl betrachten wir die Werbung für unsere Konzerte.
Todmüde erreichen wir unser Hostel, das wir die ganzen Tage über nicht mit anderen Gästen teilen müssen. Wieder beginnt es wolkenbruchartig zu regnen. Wir bestellen Pizza, anstatt noch einmal zum Essen rauszugehen.
11.06.2018
Leider müssen wir schon früh aufstehen, denn heute liegt ein toller, aber langer und anstrengender Tag vor uns. Wir sind um 10.00 Uhr in einer Schule mit Musikschwerpunkt verabredet, der Szko?a Muzyczna Frédéric Chopin. Allerdings ist es sehr kompliziert mit unserem Equipment die Schule zu erreichen, denn sie liegt in der historischen Altstadt, in unmittelbarer Nähe der alten Bastion. Unser Bus kann da nicht heranfahren. Holger gibt sein Bestes, trotzdem muss das Equipment noch ca. 500 Meter getragen werden. Wir werden herzlich empfangen, erhalten einen kurzen Vortrag auf Deutsch (!) über die Schule und erleben dann ein kurzes, aber sehr beeindruckendes Konzert von Schülerinnen und Schülern. Die Schule hat nur knapp 250 Schülerinnen und Schüler, aber fast 100 Lehrer. Das liegt daran, dass die S’uS nicht nur Gehörbildung, Rhythmik, Ensemble, Hauptinstrument, Nebeninstrument etc. als Pflichtfächer haben, sondern generell einen viel besseren Betreuungsschlüssel (nur ca. 15 Schüler pro Klasse). Wahnsinn. Auch die Ausstattung ist sehr beeindruckend. Da können wir an der Käthe nicht mithalten.
Etwas eingeschüchtert proben wir dann mit einigen Musikerinnen und Musikern den Swingklassiker Beyond the Sea. Für die polnischen Jugendlichen ist das eine Erstbegegnung mit Swing, mit Jazz überhaupt. Wir bringen den begabten Polen nicht nur die Grundzüge des Swing, sondern auch die der Improvisation nahe. Das macht Spaß und wir sind alle mit dem Endergebnis sehr zufrieden.
Dann haben wir eine kurze Pause, gut versorgt mit Getränken und Pizza durch unsere polnischen Freunde. Danach spielen wir ein einstündiges Konzert in der Aula der Schule, beginnend mit dem gemeinsamen Stück. Und wir verkaufen uns sehr gut. Die kleine, proppenvolle Aula ist begeistert. Anschließend verhandeln Herr Thiemann und Herr Kulasek mit der Schulleitung über eine mögliche Zusammenarbeit unserer Schulen in der Zukunft.
Und dann müssen wir auch schon zum Soundcheck in den Club u Muniaka. Wie fast alle Jazzclubs in Krakau liegt der über 10 Meter unter dem Straßenniveau in historischen Kelleranlagen. Benannt ist der Club nach dem polnischen Jazzsaxophonisten Janusz Muniak, einem berühmten Musiker, der mit den ganz Großen (Don Cherry, Freddie Hubbart, Hank Mobley etc.) gespielt hat und bis zu seinem Tod 2016 regelmäßig hier aufgetreten ist. Wir sind alle sehr aufgeregt. Wird überhaupt Publikum kommen? Und wie wird uns das zahlende, professionellen Jazz erwartende Publikum aufnehmen?
Was soll ich sagen: Der Club war voll, die Leute und der Veranstalter begeistert (sie möchten uns unbedingt wieder engagieren). Besser kann das nicht laufen. Und die Band hat das trotz anfänglicher Nervosität gerockt. Toll. Weit nach Mitternacht ist es, bis wir wieder noch voller Adrenalin am Hostel ankommen. Jetzt schnell ins Bett, morgen wird es wieder anstrengend.
12.06.2018
Heute Vormittag sind wir wieder mit Schülerinnen und Schülern der Frédéric Chopin Schule verabredet. In zwei Gruppen führen uns diese durch die Stadt. Wieder perfekt vorbereitet, führen sie uns professionell zu den größten Sehenswürdigkeiten der Stadt. Als wir deutlich machen, dass wir schon eine Stadtführung erlebt haben und eher interessiert daran wären, die Stellen Krakaus kennenzulernen, an denen sie ihre Freizeit verbringen würden, ernten wir verständnislose Gesichter. Schließlich klärt uns eine etwa 16jährige Polin auf: „Wir haben keine Freizeit, wir verbringen unsere gesamte Tageszeit in der Schule und üben.“ Puh, das erklärt das Niveau des Konzertes, ist aber wie unsere Altsaxophonistin hinterher treffend anmerkt, auch „ganz schön traurig“. Nach einem Mittagessen zusammen mit den Polen, müssen wir auch schon zum Soundcheck in den Chicago Jazz Club. Der Club ist noch größer und wir entsprechend aufgeregt. Um Publikum anzulocken, überträgt der Club das Liveprogramm auf die Straße vor den Club. Natürlich könnte das auch dazu führen, dass niemand kommt, denn wenn es einem nicht gefällt, was man da im Vorbeigehen hört, dann geht man natürlich auch nicht rein. Was soll man sagen: Der Club wurde voller und voller, angelockt von der Übertragung nach außen. Am Schluss war der Club rammelvoll und das Publikum geradezu frenetisch. Wir erhalten Einladungen nach Schweden und Schottland und ganz viel Lob. Viele sprechen uns an, dass sie vollkommen perplex gewesen seien, als sie wahrgenommen haben, dass die tolle Musik, die sie angelockt habe, von Jugendlichen erzeugt würde. Der Club Besitzer ist total begeistert und möchte uns unbedingt wieder buchen. Wahnsinn. Wir kommen wieder. Es ist deutlich nach zwei Uhr, bis wir wieder im Hostel ankommen.
13.06.2018
Nachdem wir in den letzten Tagen so viele schöne Konzerte geben durften, ist heute ein Tag des Gedenkens, der Geschichte und der politischen Bildung: Am Vormittag besuchen wir die Fabrik von Oskar Schindler. Ein wirklich unheimlich tolles Museum, in dem wir nicht nur viel über diese besondere Geschichte erfahren haben, sondern auch sehr viel über den Einfall der Wehrmacht in Polen und den daraus resultierenden Veränderungen für Krakau. Am Nachmittag besuchen wir das ca. zwei Autostunden entfernte Auschwitz und Birkenau. Ein harter, aber sehr eindrucksvoller Tag.
14.06.2018
Heute Vormittag besuchen die besonders Engagierten der Band Nowa Huta, eine riesige sozialistische Vorzeigestadt im Osten Krakaus. Völlig neu erbaut vor ca. 70 Jahren für schlappe 70.000 Personen, heute leben da sogar weit über 200.000 Menschen. Sehr beeindruckend. Für umgerechnet 1,50 € essen wir sehr gute polnische Küche in einem kantinenartigen Restaurant. Spannend.
Am Nachmittag erkunden einige von uns das Viertel, in dem unser Hostel liegt. Hier war während der deutschen Besatzung das Ghetto, der letzte Rest der Ghettomauer liegt direkt gegenüber vom Hostel. Wenn man durch die Straßen läuft, stößt man ständig auf die furchtbare Geschichte (hier war ein jüdisches Krankenhaus, dort ein jüdisches Waisenhaus, immer wurden alle Insassen von den deutschen Besatzern bei der Räumung des Ghettos im März 43 ermordet, puh).
Abends treffen wir uns noch einmal am Marktplatz, laufen noch einmal die Clubs, in denen wir spielen durften, ab und genießen die schöne Stimmung in und um den Rynek.
Anschließend macht jeder in Kleingruppen das, worauf er besonders Lust hat. Viele zieht es ins Stadtviertel Kazimierz, um den besonderen Flair dieser tollen Stadt abseits der ganz großen Touristenströme zu erleben und noch etwas mehr Jazz zu hören…
Krakau, du Schöne, wir hatten eine tolle Zeit hier. Nun müssen wir gehen. Aber wir kommen wieder…
(Thi)