Ein „religiöser“ Stadtspaziergang
Im Religionsunterricht des 10. Jahrgangs steht klassischerweise das Thema „Staat und Kirche“ auf der Tagesordnung. Näher an der heutigen Erfahrungswelt junger Menschen ist die Verhältnisbestimmung zwischen „Religion und Gesellschaft“. Nachdem im Dezember schon Alexandra Diercks, die Militärseelsorgerin vom Fliegerhorst Wunstorf, in den Unterricht gekommen ist, macht sich der 10er Religionskurs von Herrn Wernecke am Mittwoch, dem 15. Februar 2017, auf zu einem über dreistündigen Stadtspaziergang. Auf dem Weg vom Ägidientorplatz über die „Kirchenmeile“ der Calenberger Neustadt in die Altstadt verfolgen wir insbesondere drei inhaltliche Linien: Die Kirchengeschichte Hannovers, die Ausgrenzung und Verfolgung der jüdischen Stadtbevölkerung im Nationalsozialismus und den Umgang der Kirchen mit sozialen Missständen.
Das Gemälde Ferdinand Hodlers im Neuen Rathaus eröffnet unseren Zugang zur Reformationsgeschichte unserer Stadt und verdeutlicht den religiösen wie politischen Emanzipationswillen des Bürgertums gegenüber Landesherrn und Patriziern. Die vorreformatorisch-mittelalterliche Situation erschließen wir uns später in der Marktkirche. Einen Sonderweg der niedersächsischen Reformationsgeschichte lernen wir bei einer Begegnung an der reformierten Kirche am Waterlooplatz kennen: in kleinen Territorien in Ostfriesland, der Grafschaft Bentheim und im Göttinger Raum gab es diese radikal bibelorientierte Spielart: Die nach Gottes Wort reformierte Kirche griff mit religiösen Vermahnungen einerseits in das Privatleben der Bürger ein, andererseits trat sie so aber auch für ein funktionierendes gesellschaftliches Miteinander ein. Da passt es gut, dass die Kirche ihre Tür gerade zum Eine-Welt-Café für Flüchtlinge öffnet.
Neben der Neustädter Hof- und Stadtkirche steht heute das Evangelisch-lutherische Landeskirchenamt auf dem früheren Grundstück der städtebauliche prägenden „Neuen Synagoge“ (1870-1938). Diese wurde in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 kontrolliert niedergebrannt. Auf den äußeren Anlass der Reichspogromnacht stoßen wir später am Historischen Museum wieder: Dort wohnten die Eltern Herschel Grynszpans, der am 7.11.1938 in Paris einen deutschen Diplomaten erschoss, nachdem seine aus Polen stammende jüdische Familie aus Hannover in das Niemandsland zwischen dem deutschen Reich und Polen deportiert worden waren. Für die Nationalsozialisten bot dieser Todesfall die Möglichkeit, ihre lange vorbereitete Zerstörung jüdischer Synagogen und Geschäfte unter dem Deckmantel des „spontanen Volkszornes“ durchzuführen.
In der Clemensbasilika überlegen wir, wie Katholiken im 18. Jahrhundert ins evangelische Hannover kamen und sehen im gegenüberliegenden Bau die soziale Arbeit, die die Caritas heute vollbringt. Dazu passt vor der Marktkirche das Monument Bödekers (1799-1875), der als oberster evangelischer Pastor Hannovers reichsweit für seine Spendensammlungen zugunsten sozialer Zwecke berühmt war. Das neben ihm dargestellte Kind im zerschlissenen Kittel erinnert daran, dass u. a. das Kinderkrankenhaus auf der Bult durch ihn gegründet wurde. Im [ka:punkt] in der Grupenstraße gibt es auch heute kirchliche Hilfe in Form von Seelsorge und Beratung durch die katholische Caritas – im Raum der Stille im Keller beenden wir dann unsere Stadterkundung mit Religion zum Anfassen.
(Wer)