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„Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch.“

Die Theater-AG spielte zwei Stücke von beklemmender Aktualität.

Die Theater-AG der Oberstufe unter der Leitung von Siegfried Stöbesand zeigte am 12. und 13. Januar zwei Einakter von Peter Slavik, einem Wiener Autor, der lange in Berlin als Kultur- und Sozialarbeiter lebte.

„Die Glocke“ ist eine groteske Parabel im Stil von Max Frischs „Biedermann und die Brandstifter“: Ein Mann, selbstzufrieden in seiner beschränkten kleinen Zimmerküchebücherregal-Idylle, Muttis Vorhänge in schwarzrotgelb inklusive, bestellt drei Handwerker für den Einbau einer Glocke. Eine Glocke, die nur für ihn klingeln soll, so eine Glocke, wie alle anderen eine haben. Die Handwerker kommen und, gesagt, getan: sie räumen auf! Räumen auf mit dem Zimmer, räumen auf mit der Küche, mit dem Bücherregal, räumen auf mit der Idylle, bringen an die Stelle von Muttis Vorhängen eine Glocke an die Wand. Wer wird denn da protestieren!? Hat der Mann die Handwerker nun gerufen oder nicht!? Hat er nicht eine Glocke haben wollen!? Aber zu der Glocke gehört eine Uhr und die Uhr läuft ab. Und zu der Uhr gehört ein Sprengsatz, und die Zeit läuft ab. Wer wird denn da protestieren!? Die Glocke läutet doch nur für ihn, so wie für alle anderen auch.

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Paul Winterholler verlieh dem Mann eine beklemmende Hilflosigkeit, die sich gegen die robuste Selbstsicherheit der drei Handwerker, gespielt von Jenny Korobkov, Xenia Reznitski und Rahel Yohannes nicht durchsetzen konnte: Der Mann erkennt verzweifelt, dass er in der Falle sitzt, aber er kann gegen die Zerstörung seines Heims nichts tun. Er wollte die Glocke haben, nur für sich, so wie alle anderen auch. Und dann wird das schwarzrotgelbe Idyll atomisiert. Das Schlussbild der Inszenierung zeigt das projizierte Foto einer Explosion.

 

Ein Stück anderer Art ist „Aysche und Ricarda“, ein Stück aus den 70er Jahren und hochaktuell. Die Bühne ist zweigeteilt: Aysche links, Ricarda rechts. Zwischen ihnen eine angedeutete Wand aus Paletten, eigentlich überwindbar und dennoch geht niemand über die Barriere hinweg. Nur Pamphlete und ein gefalteter Papierflieger überbrücken kurzfristig die abgeschotteten Bezirke.

Die Protagonistinnen sprechen abwechselnd, in ihrer jeweiligen ärmlichen Einrichtung sitzend, stehend, liegend. Aysche verließ ihre Familie, als diese aus Deutschland in die türkische Heimat zurückkehrte. Sie ließ die traditionelle Frauenrolle hinter sich, die familiäre Gewalt, den geliebten kleinen Bruder und engagiert sich in der politischen Aktion gegen die Rechten, die „Ausländer-raus“-Schreier, die Gasofen-Forderer.

Ricarda verließ ihre Familie, als sie die Legenden des Vaters vom Kampf der aufrechten Antifaschisten gegen die Nazis als Phrasendrescherei eines gescheiterten Mannes durchschaute. Sie provoziert mit dem Hitlergruß, sie will etwas für die „Volksgemeinschaft“ tun und Ausländer raus aus Deutschland, sie sehnt sich nach Paulsen von der Pegida aus Dresden und freut sich auf den Auftritt der Rechten an der Roland-Schule.

Aysche und Ricarda kennen und sehen sich nicht, sie sprechen zum Publikum. Sie erzählen von der Eskalation der Gewalt, von der Attacke der Rechten auf den 14-jährigen Ali, von dem Überfall der Linken auf eine rechte Druckerei. Und jetzt der Auftritt der Rechten an der Roland-Schule: Aysche und ihre Freunde wollen mit Transparenten diese Kampagne stören – „Alle Menschen sind Ausländer – fast überall“.

Aysche und Ricarda sehen sich zum ersten Mal, als Ricarda unterhalb des Bühnenraums die Grenze überschreitet. Die Aktion endet tödlich. Wir sehen das nicht. Ricarda stürzt zurück auf die Bühne und stammelt, sie habe eine Türkin erschlagen, dabei wollte sie doch nur das blöde Transparent wegreißen, doch die Türkin hielt es fest, und dann war da der Stuhl, den Ricarda griff, mit dem sie zuschlug, und die Türkin lag auf dem Boden, und sie wollte noch der Türkin helfen…

Josefine Körmeling als Aysche und Laura Vollbrecht als Ricarda spielten die starken Rollen mit packender Intensität. Sie nahmen dabei kein politisch korrektes Blatt vor den Mund, scheuten nicht vor den Schocks, den der Text ihnen und uns zumutete, zurück. Die Zuschauer verharrten in gebannter Stille. Beeindruckend.

Unser Dank für diese mutige Inszenierung geht an die hervorragenden Schauspielerinnen und Schauspieler, an Niels Alexander Baum für die Technik, an Stefan Wiefel für die künstlerische Unterstützung und für die Gesamtleitung an Siegfried Stöbesand.

Am 12. Januar 2016 griffen 250 rechte Hooligans den alternativen Leipziger Stadtteil Connewitz an, zerstörten Geschäfte, Bars und Räume von linken Projekten und attackierten Passanten. In der Nacht vom 10. auf den 11. Januar 2016 griffen Gruppen von Gewalttätern in der Kölner Innenstadt Menschen mit pakistanischer und syrischer Staatsangehörigkeit an und verletzten sie. Am Abend des 10. Januar 2016 wurde auf eine Asylbewerberunterkunft im  Münsterland ein Brandanschlag verübt. Auf einer Facebook-Seite mit Hunderten Lesern pro Tag wird der Anschlag mit den Worten begrüßt: „Auch hier nehmen Bürger die Sache in die eigene Hand.“ Seit den Silvester-Übergriffen von Köln nehmen die Hasstiraden im Netz schlagartig zu. Es droht offenkundig eine neue Welle der rassistischen Gewalt. Rechte Gewalttäter verabreden sich über soziale Netzwerke zu gewaltsamen Aktionen gegen Ausländer.

Unüberhörbar tickt die Uhr für das schwarzrotgoldene Idyll.

(Elg)

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